Die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit in Vertrauensnetzwerken ist der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg im Zeitalter der digitalen Plattform-Ökonomie. Das war gewissermaßen die Kernbotschaft des prostep ivip Symposiums 2019, das unter dem Motto „Kollaboration in the Age of Smart Products and Services“ stand. Offenheit und Standard sind unverzichtbar, wenn die Unternehmen agil auf die Unwägbarkeiten der digitalen Zukunft reagieren wollen.
Vertrauensnetzwerk ist das neue Zauberwort, mit dem Karl-Heinz Streibich, Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech), auf dem Symposium für mehr Zuversicht mit Blick auf die digitale Zukunft warb: Die vorwettbewerbliche Zusammenarbeit von Unternehmen, die normalerweise im Wettbewerb zueinander stehen, zum Nutzen aller. Streibich würdigte den Verein als Vorreiter solcher Vertrauensnetzwerke, von denen wir in der digitalen Plattform-Ökonomie mehr bräuchten, um aus Deutschland und Europa heraus die nächste Generation industrieller Champions zu schaffen. Mit gemeinsamen Plattformen könnten die deutschen Unternehmen die zweite Halbzeit der Digitalisierung noch gewinnen.
Das prostep ivip Symposium ist das weltweit größte, anbieterunabhängige Treffen der PLM-Branche. Mit 680 Teilnehmern aus 191 Unternehmen und 25 Forschungsinstituten war die zweitägige Veranstaltung im ICS in Stuttgart fast so gut besucht wie die des Vorjahres. Knapp 15 Prozent der Besucher kamen aus dem Ausland, wie Vorstandsmitglied Philipp Wibbing zum Auftakt der Veranstaltung sagte. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, die Internationalisierung weiter voranzutreiben und die Projekte und Aktivitäten in den Arbeitsgruppen noch besser transparent machen. „Die Standardisierung bleibt der Nucleus unserer Arbeit, aber wir werden sie anders angehen und Standards noch stärker modularisieren“, sagte Wibbing.
Model-based Systems Engineering (MBSE) war in diesem Jahr das beherrschende Thema, nicht nur in den Vorträgen der Arbeitsgruppen des Vereins. Auch viele Anwendervorträge drehten sich um die modellbasierte Systementwicklung, was deutlich macht, dass das Thema in der Industrie angekommen ist. Bei der Implementierung entsprechender Werkzeuge und Methoden in ihre PLM-Prozesse stehen die meisten Unternehmen allerdings noch ziemlich am Anfang. Eine große Herausforderung ist die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit bei der modellbasierten Entwicklung smarter Produkte und Systeme, mit der sich die Smart SE-Arbeitsgruppe des Vereins seit Jahren intensiv auseinandersetzt.
Die Aktivitäten des Vereins auf dem Gebiet der kollaborativen Systementwicklung sind der Grund, warum The Boeing Company kürzlich dem „Vertrauensnetzwerk“ beigetreten ist. Der amerikanische Luft- und Raumfahrt-Hersteller bewege sich voll in Richtung „model based“, einschließlich der Modellierung der Fabriken, sagte Russ Benson, Vice President IT Product Systems, in seiner Keynote über Boeings Digital Transformation Journey. Zuvor hatte sein tiefes Bedauern über vielen Toten bei den beiden Flugzeugabstürzen ausgedrückt und versichert, dass Boeing alles tun werde um das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen.
Das diesjährige Symposium wurde gesponsert von PLM-Hersteller Aras und Automobil- und Industriezulieferer Schaeffler, die in den Vorträgen am Vorabend und den Keynotes zu Wort kamen. Marc Lind, Senior Vice President Strategy des PLM-Herstellers, beschrieb das Spannungsfeld der digitalen Transformation: Einerseits bräuchten die Unternehmen flexible Lösungen, weil sich die Prozesse oft schneller ändern als die Software ausgerollt sei; andererseits erforderten die digitalen Prozesse von morgen immer noch kundenspezifische Anpassungen. Die Erblast der Legacy-Systeme sei dabei eine wesentliche Hürde, weil sie die Investition in technische Innovationen verlangsame, spann CEO Peter Schroer den Gedanken in seiner Keynote weiter. Er empfahl einen „Resilient Plattform Approach“, d.h. eine robuste Plattform, die es ermöglicht, bei Bedarf sowohl die darunter liegende IT-Infrastruktur, als auch die darauf aufbauenden Anwendungen auszuwechseln.
Die Legacy-Systeme bekomme man nicht weg, meinte Dirk Spindler, Leiter F&E Prozesse, Methoden & Tools bei Schaeffler, bei dem allein im Engineering ca. 450 IT-Systeme im Einsatz sind. Das Unternehmen verfolgt den Ansatz, die Informationen in den bestehenden Anwendungen über ein Engineering Cockpit zu verlinken, um z.B. die Stückliste eines mechatronischen Systems vollständig abbilden zu können. Mit Blick auf die Herausforderungen der Mobilität von Morgen meinte Spindler, dass die Zukunft keiner allein gestalten könne, sondern dass es mehr Kollaboration geben werde. Dazu brauche man Standards, die es z.B. für MBSE erst in Ansätzen gebe. Das Symposium sei der beste Ort um sich über solche Themen auszutauschen.
Schaeffler ist nicht das einzige Unternehmen, das auf Daten-Verlinkung und rollenbasierte Cockpits setzt. Hanjo Petzold und Heike Halkenhäußer von der Daimer AG erläuterten den Teilnehmern, wie der Automobilhersteller die PDM-Vision eines Digital Twins realisieren will. Die Zwillinge sollen den Lebenszyklus jeder Variante von der cross-funktionalen Systementwicklung bis zum Aufspielen neuer Funktionen „over the air“ begleiten. Dafür ist das heutige PDM-Modell jedoch nicht ausgelegt. Deshalb sollen die Daten der Backend-Systeme über einen semantischen Layer vernetzt und in verschiedenen Cockpits bereitgestellt werden, wie die Referenten sagten. Es werde nicht ein, sondern mehrere IT-Datenmodelle bzw. Daten-Layer für unterschiedliche Anwendungsfälle geben. Datenqualität und -verfügbarkeit sollen unter anderem durch den Übergang von einer baureihen- zur modulorientierten Dokumentation verbessert werden.
Voraussetzung für eine effiziente Datenvernetzung ist der Übergang von einen disziplinen-spezifischen zu einem universellen Datenmanagement mit standardbasierten und maschinenlesbaren Web-Schnittstellen. Das betonte Dr. Axel Reichwein von Koneksys in seinem Vortrag. Beziehungen würden grundsätzlich durch die ID der zu vernetzenden Artefakte und den Beziehungstyp definiert. Es gebe jedoch ebenso viele Arten, auf die ID zuzugreifen, wie es Anwendungen gebe. Reichwein empfahl, vorhandene Web-Standards wie OSLC bzw. RDF (Ressource Description Framework) für die Vernetzung der Engineering-Daten zu nutzen und von den IT-Vendoren entsprechende APIs zu verlangen. Daten und Anwendungen zu entkoppeln, sei ein wichtiger Schritt, um vorhandene Daten auch mit neuen Anwendungen z.B. für die Künstliche Intelligenz (KI) weiter verwenden zu können.
KI und Maschinelles Lernen (ML) war einer der Themenschwerpunkte, der in diesem Jahr einen breiteren Raum einnahm. Dabei zeigte sich die ganze die Bandbreite möglicher Anwendungen. Dr. Martin Noack von der Individual Standards IVS GmbH erläuterte den Teilnehmern z.B., wie sich textuelle Anforderungen bzw. die in ihnen implizit enthalten Beziehungsinformationen mit Hilfe von Algorithmen der Sprach- bzw. Texterkennung automatisiert in modellbasierte Anforderungen überführen lassen.
Am anderen Ende der Prozesskette angesiedelt war das Anwendungsbeispiel aus der Additive Manufacturing Interface-Initiative (AMI) des Vereins, das Kai Gläser (Daimler AG) und Stefan Just (PROSTEP AG) vorstellten. Im Rahmen der Initiative wird untersucht, wie sich die begrenzte Wiederholbarkeit von Druckergebnissen auch bei Verwendung derselben 3D-Drucker und Ausgangsparameter verbessern lässt, indem man ein Modell mit Hilfe von ML-Algorithmen trainiert, so dass es Abweichungen vom Sollzustand frühzeitig erkennt bzw. Prognosen über den Istzustand erlaubt. Ziel der AMI ist die Entwicklung von Schnittstellen-Anforderungen für die Interoperabilität im AM-Prozess und die Übergabe der Daten an die KI.
100 Prozent Agilität ist das Ziel der BMW Group und anderer Unternehmen, aber agile Methoden lassen sich nicht von heute auf morgen in der ganzen Organisation implementieren. Das muss die Projektteams aber nicht davon abhalten, agile Projekte in einer (noch) nicht agilen Umgebung durchzuführen, wie der Vortrag von Marc Pelz (BMW Group) und Dr. Johannes Herter (UNITY AG) deutlich machte. Auf die richtigen Methoden kommt es, und auch auf entsprechende Software-Tools. So hat Mann + Hummel in Zusammenarbeit mit PLM-Hersteller CONTACT Software das Projekt-Management um Funktionen für die agile Projektabwicklung erweitert. Dennis Pfister und Klaus Bräuninger erläuterten, wie das Zusammenspiel von klassischen Entwicklungsphasen und agiler Umsetzung der Arbeitspakete mit den Task Bords funktioniert.
Die meisten Unternehmen in Deutschland bieten heute schon smarte Produkte an oder entwickeln sie gerade, auch wenn sie noch nicht wissen, wie die neuen Geschäftsmodelle aussehen werden. Das war eine der Erkenntnisse der Studie über Smart Industrial Products, die das Fraunhofer IPK zusammen mit CONTACT Software und VDI durchgeführt hat. Im Vortrag von Dr. Walter Koch (Schaeffler) und Dr. Jens Göbel (TU Kaiserslautern) über die Entwicklung verfügbarkeitsorientierter Geschäftsmodelle konnten sich die Zuhörer inspirieren lassen. Die beiden Referenten stellten ihnen drei Anwendungsfälle vor, die die Konsortialpartner des Verbundprojekts InnoServPro realisiert haben. Keiner hätte das für sich alleine geschafft, versicherte Koch.
Die Lebenszyklen smarter Produkte verlängern sich zunehmend bis in die Betriebsphase. Deshalb müssten die PLM-Daten der Produktinstanzen mit den Lebensdaten aus dem Feld zusammengebracht werden, was offene Architekturen und die Beschäftigung mit IoT und Data Analytics erfordere, erläuterten die beiden Referenten. Wie das konkret aussehen kann, machten sie u.a. am Beispiel eines Kartoffel-Vollernters von Grimme deutlich. Zur Erhöhung der Verfügbarkeit wurde für die Landmaschine eigens ein neuer Sensor entwickelt, der die Dehnung des Förderbands überwacht, auf dem die Kartoffeln transportiert werden. Die Sensordaten werden maschinennah ausgewertet und mit den Lebensdauerdaten abgeglichen, um rechtzeitig vor dem Ausfall des Förderbands das Ersatzteil bestellen und den Servicetechniker anfordern zu können.
MBSE ist kein neues Thema auf der Symposiums-Agenda, aber es war lange Zeit ein Steckenpferd der Wissenschaftsgemeinde und Standardisierungsexperten. Die Smart SE-Gruppe entwickelt schon seit 2012 standardbasierte Best Practices für die kollaborative Systementwicklung und ist heute die größte Projektgruppe des Vereins. In diesem Jahr wurde die vierte Projektphase eingeläutet, in der sich die Teilnehmer Gedanken über einen generischen, simulationsbasierten Entscheidungsprozess machen wollen. Dr. Stefan Ruge (BMW Group) erläuterte zusammen mit Timo Wekerle (PROSTEP AG) die neuen Arbeitspakete, in denen u.a. die Anforderungen an Standards für die Simulation autonomer Systeme und virtueller Steuergeräte (V-ECU) definiert werden sollen. Es gebe zunehmend domänenübergreifende Simulationsaufgaben, für die eventuelle neue Standards erforderlich seien, meinte Ruge.
Für viele Unternehmen besteht die Herausforderung bei der Integration des MBSE darin, die Informationen der einzelnen Disziplinen miteinander zu verknüpfen. Bei Schaeffler war z.B. die Software- bislang kaum mit der Mechanik-Entwicklung integriert, was ein durchgängiges Anforderungs-, Konfigurations- und Änderungsmanagement erschwerte. Am Beispiel eines realen Produkts erläuterten Prof. Dr. Martin Eigner (EIGNER Engineering Consult) und Dr. Momme Stürken (Schaeffler), wie das Unternehmen künftig die Anforderungen in Integrity importieren und im Enterprise Architekt zur Verfügung stellen wird, um sie in einem Funktionsmodell abzubilden. Über die Aras-Schnittstelle werden Funktions- und logische Struktur dann an das Engineering Cockpit übergeben, wo sie mit Informationen aus Mechanik-, Elektrik/Elektronik- und Software-Entwicklung verlinkt werden können.
MBSE ist das Fundament für die Bewältigung der Komplexität in der Entwicklung, erfordert aber eine Transformation der Engineering-IT, wie Christian Heider (AUDI AG) und Hannes Hüfer (UNITY AG) in ihrem Vortrag erläuterten. Audi will am Beispiel eines konkreten Fahrzeugprojekts neue Methoden und Tools in die PLM-Plattform 3DEXPERIENCE integrieren, um nicht nur die Kollaboration in der Organisation, sondern auch der Austausch von Informationen mit den Partnern zu unterstützen. Das Fahrzeug werde zu einem von vielen Systemen, die nur im Verbund funktionieren, sagte Heider. Das wolle man mit dem SE-Ansatz sicherstellen.
Agrartechnik-Hersteller CLAAS nutzt ebenfalls die 3DX-Plattform als Basis für sein globales Engineering-Ökosystem, wie Chief Digital Engineering Nico Michels in der abschließenden Keynote erläuterte. Das Unternehmen ist sehr weit, was die digitale Transformation anbelangt. Es bietet seinen Kunden neben smart vernetzten Landmaschinen, die den Zustand der Felder kennen und z.B. die Düngemittel entsprechend dosieren, komplette Farm Management-Systeme. Auch beim Thema Systems Engineering ist CLAAS Vorreiter. Auf der Basis der 3DX-Plattform hat das Unternehmen eine Systems Engineering-Umgebung aufgebaut, die bereits in Piloten verwendet wird.